Fast jeden Morgen schaue ich in den Filter, wie das heiße Wasser durch das Pulver des Kaffees fließt und letztendlich eine glänzende Masse hinterlässt, die mit der Zeit trocknet. Dann habe ich aber schon längst den Kaffee ausgetrunken. Und eigentlich habe ich auch keine Zeit, das Trocknen abzuwarten, zu groß ist die Gefahr, dass ich im kleinen Bus den Filter umhaue und eine Großreinigung verursache. Alles schon geschehen, aus Erfahrung werde ich manchmal klug.
Wir haben uns von Werner und Elke verabschiedet, die vor ihrem Camper stehen, uns nachwinken, während der blaue Bus an der Abfahrt nach links ins Tal fährt. Wir müssen tanken, da wir in die Berge fahren, kann ich nicht abschätzen, wie die Verhältnisse dort sind. Einsamkeit ist Programm und auch ein Teil von dem, warum es mich in Gegenden zieht, die touristisch nicht gefragt sind.
Letzte Blicke auf den Ebro in Roquetes, dieses merkwürdige Denkmal im Fluß, den wir kurz vorher über einer Brücke mit stählernem Aufbau überquert haben. An der Capella dels Reis, eine kleine Kirche aus dem Übergang zwischen 19./20. Jahrhundert, haben wir die Stadt schon verlassen und fahren zwischen den Feldern mit reifenden Orangen nordwärts. Viele zerstörte Häuser begleiten schon seit Tagen unsere Wege, besonders außerhalb der Städte ist die jahrzehntelange Landflucht wie eine offene Wunde in meinem Blick. Immer wieder ertappe ich mich, dass ich nach Leben schaue. Wäsche, die im Wind flattert, Kinderspielzeug vor der Eingangstür, eine Mutter, die dem fahrenden Mann nachruft. Tatsächlich freue ich mich, dort Leben zu sehen, wo ich hoffe, dass Menschen bleiben möchten.
Es ist auch irgendwie meine Geschichte einer Sehnsucht, der ich in den Überresten alter Häuser nachdenke, die mich fragen lässt, warum dort jemand leben wollte, was ihn bewegt hat zu gehen, ob er vielleicht dort gestorben ist. Und was diese Gedanken mit mir machen. Ich trage diese Erinnerungen mit mir durch alle Länder, in denen ich reise, und es macht eigentlich keinen Unterschied, in welcher Jahreszeit wir unterwegs sind, immer wieder ploppen sie auch und bewegen mich.
In den Städten und Orten, wo Menschen die Straßen beleben, erfahre ich Ähnliches, und muss sehr drauf achten, die Passanten nicht zu intensiv zu betrachten, weil sie meine Blicke spüren, den Kopf wenden, und mich in einer Weise ansehen, dass ich den Eindruck habe, sie könnten meine Gedanken lesen. Während ich in den Häusern über die unbekannten Menschen nachdenke, berühren sie mich auf den Straßen. Es gibt so oft einen sekundenlangen Blickkontakt, weil ich langsam fahre, um meine Welt anzuschauen. Da sitzen sie in den Cafés, telefonieren auf der Straße, oder schauen aus dem Fenster. Und wir sehen uns. Ohne Worte. Ich kann das gar nicht vermeiden. Und oft auch nicht, später ihre Gesichter mir zurückzurufen, und über sie nachzudenken.
Gestern habe ich überlegt, meine Haare abzuschneiden, um weniger auffällig zu sein, wobei es vermutlich gar nicht daran liegt. Bitem ist der nächste Ort nach der Kapelle. Linkerhand ein einladender Torbogen, dahinter das brachliegende Land, ein verlassenes großes Haus. Über die Orangenhaine, die gelbgrünen Bäume unterm blauen Himmel mit den weißen Wolken, hindurch blicke ich auf den Fluß, der auch dann seine Gelassenheit nicht verliert, wenn die Menschen schon ganz verzweifelt sind.
Tivenys. Hohes Schilfgras. Einige Tische überm Wasser. Aus einem Lastwagen werden Getränke ausgeladen, ein anderer Laster hebt den Container voll mit alten Fliesen auf seinen Rücken. Die weißbestäubten Arbeiter ruhen einen Moment lang in aufrechter Haltung aus, einer ist dunkelhäutig, der andere vielleicht aus einem muslimischen Land. Der Fahrer Spanier, und trotzdem gibt es spürbare Unterschiede in unserer Stellung zueinander. Für sie alle bin ich ein Tourist. Dass ich ein Reisender bin, kein Tourist, das passt nicht in ihre Verständniswelt. Wir bleiben trotzdem einander fremd, auch wenn wir alle Menschen sind.
Die T-301 führt in Serpentinen steil bergauf in eine so einsame Welt, dass ich mich in der Leere zu verlieren drohe. Fünf scharfe Kurven, 189 Meter, steht auf dem Schild im Tal für die Radfahrer, von denen mir erst viel später bei meiner Abfahrt einer entgegenkommt. Ich kann dem Schild kaum Glauben schenken, weil der Ebro so tief im Tal unter uns fließt, dass ich meine, wir müssen dem Himmel schon näher kommen, als nichtmal zweihundert Meter Höhenunterschied.
Col de Som, ein unscheinbares Schild am Straßenrand, weiße Schrift auf grünem Grund. Rechterhand neben Felsen und bodenständigen Pflanzen. Den Blumenstrauch grüner farnähnlicher Gewächse im Hang habe ich weiter unten am Berg aufgenommen. Sie wirken wie ein kleines, persönliches Geschenk. Nur für mich. Fast so wie ein wenig später – wieder unten am Wasser – das weite Blau im stillen Wellengeflüster.
Ginestar, unsere Fahrt in den Ort hinein, vorbei an den Bars und Cafés mit den Gästen, die mir ins Gesicht schauen, als hätten sie mich erwartet. An ihnen vorbei biegen wir ein zu einem Stellplatz an den Weinfeldern, die sich am Ortsrand über die Ebroebene ausdehnen. Zwei Gastarbeiter, das ist ein Begriff, der mir hier schwer über die Lippen geht, aber ein Indiz für die Herkunft der Menschen zu sein scheint, die die sogenannten niederen Arbeiten verrichten, grüßen freundlich, während die beiden niederländischen Fahrzeuge so eng zueinander stehen, wie man zu zweit eine Wagenburg errichten kann. Obwohl geschäftig hinter einem halb geöffneten Fenster Bewegung ist, gibt es kein freundliches Hallo.
Wir machen einen Spaziergang an den Feldern entlang, zwischen denen Hilde gerne noch viel weiter laufen möchte, während mir eine schmerzhafte Stelle unterm Fuß das Gehen erschwert. Mein Kompromiß ist für Hilde ein schwer zu ertragendes Muß, klar wir kuscheln viel und teilen so manches Essen miteinander, aber dass der Papa nicht lange laufen kann, ist ein blöder Mist.
Am Abend allerdings ist es andersherum, da haben wir Martin getroffen, und hätten durchaus eine große Runde zusammen gehen können. Aber da gibt es die fünf jagenden und wild bellenden Hunde hinterm Zaun auf dem Grundstück der Besitzerin unseres Stellplatzes, und die schießwütigen Jäger in den Hügeln über uns, die Hilde den Spaß nehmen.
Da wir nicht in Ginestar bleiben wollen, bietet sich eine weitere Möglichkeit, kostenlos zu übernachten in Miravet an. Die gelbe Burgruine haben wir schon vom anderen Ufer aus gesehen. In Mora d’Ebre haben wir den Fluß auf einer unscheinbaren, stark befahrenen Brücke überquert, und stehen jetzt unten an ihm, über dem die Sonne untergeht, sodass die Ruine in ihren Schatten geworfen ist.
Ein bunter Wohnwagen zieht meine Blicke an, er parkt seitlich so eingepfercht zwischen den Wölbungen der Straße, dass er mich glauben lässt, er wohne hier schon immer. Der Stellplatz ist ziemlich humorlos und wenig attraktiv, mehr eine Art Durchfahrtsstrasse, so wie die Parkplätze an den Autobahnen.
La Campaneta, oberhalb des kleinen Ortes Benissanet in den Feldern gelegen haben, spricht mich an. Trotz der Hunde und dem Zaun zu den Bergen hin, vor denen im Tal der Fluß liegt. Es ist Donnerstag habe ich gelesen, seit dem Podcast vor einigen Wochen habe ich mir angewöhnt, dass dieser Tag der Körperpflege dient. Da war es mir tatsächlich unangenehm, nicht frisch gewaschen zu dem Termin zu gehen, als möchte ich nicht, dass jemand denkt, ich sei ungepflegt. „Wie können Sie einerseits in einer solchen Welt der Freiheit leben, und andererseits eine Arbeit machen, die soviel konstruktive Erwartung an Sie stellt?“ Das hat Dibaba damals gefragt und eigentlich bin ich mit meiner Antwort nicht zufrieden gewesen. Deshalb vielleicht arbeitet sie in mir. Gerade an solchen Punkten wie die wöchentliche Körperreinigung.
Freiheit zu haben, ein solches Leben führen zu dürfen, ist doch nicht damit identisch, das ein körperlich, geistiger Verfall damit einhergehen muss. Es gab in den Achtzigern einen bemerkenswerten französischen Film über den Ausbruch einer jungen Frau aus den gesellschaftlichen Strukturen einer Pariser Familie, in der das Miteinanderleben eine so untergeordnete Rolle gespielt hat, dass sie sich nach Freiheit, Frieden und Liebe sehnt.
„Im Zusammenspiel mit den tristen Winterbildern schafft Vardas zurückhaltende Inszenierung Raum für Reflexion. Ohne die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe der jungen Aussteigerin zu kennen, bleibt uns nur die Bewertung des aktuellen Leinwandgeschehens. Da die verschlossene Frau keinerlei Ideologie formuliert, reicht Varda den Freiheitsbegriff ihrer Protagonistin an uns weiter. Wie sieht diese Freiheit aus?
Der Originaltitel deutet Monas Lebensweise eher pessimistisch: Sans toit ni loi – „ohne Dach und Gesetz“ trifft den kargen Alltag der Frau schon ziemlich exakt. Mona leistet sich die Freiheit, sich keiner Ideologie unterordnen zu müssen, und entsagt den kapitalistischen Grundfesten unserer Gesellschaft. Sie ist an keinen Ort und keine Verpflichtungen gefesselt.
Was sich romantisch anhört, entpuppt sich als Leben ohne Halt. Mit dem Verzicht auf ein geregeltes Einkommen ergibt Mona sich vollends der Willkür von Dritten – sie ist auf Nächstenliebe und Mitgefühl angewiesen, also alles andere als frei. Das führt zu einem steten Abstieg, der auf einem Feld im Nirgendwo endet. Erfroren aufgefunden, konstatieren die Polizisten einen „natürlichen Tod“. Doch erscheint das Dahinsiechen eines Individuums in einer westlichen Wohlstandsnation nicht viel mehr „unnatürlich“?
Vogelfrei mag eine orientierungslose Frau ins Zentrum der Erzählung stellen, doch wie in den Bildern von Vardas Landsmann, des Malers René Magritte, geht es vor allem um die Anordnung der Dinge um das Motiv herum.
Vogelfrei handelt nicht nur von einer Vagabundin, sondern auch von der Gesellschaft, von dir und mir.“
https://filmsucht.org/vogelfrei-1985/
Der Film erschien drei Jahre, nachdem ich mich nach meiner ersten großen Reise über drei Jahre durch Europa gerade niedergelassen und mit den Folgen dieses Aussteigens nach wie vor zu kämpfen hatte. Erst über den Film ist mir bewusst geworden, wie dicht am Abgrund ich gelebt habe.
Das steht mir auch heute noch ganz real vor Augen, wie schmal dieser Grad ist, und wie groß die Gefahr des Absturzes ist, sodass ich mir immer wieder gesellschaftliche Brücken baue, um dies zu verhindern. Eine davon ist die Körperpflege, von den anderen schreibe ich zu anderen Zeiten.
Heute Abend ist es leicht, mich zu duschen. Im Preis von 13 Euro für die Nacht ist nicht nur Strom enthalten, sondern auch das Duschen in einem separaten kleinen, sauberen Badezimmer mit ziemlich heißem Wasser, das zeitlich nicht begrenzt ist. Ich koche abends und morgens, nur nachts werde ich wach vom Stromausfall, weil das Atemgerät nicht funktioniert, und vom Sturm, der den Bus schubst.
Wir haben Martin kennengelernt, zehn Jahre jünger als ich, vor einem halben Jahr ausgestiegen, auf der Suche nach dem inneren Frieden. Er kommt von Skandinavien runter, wandert viel, und bleibt immer solange an einem Ort, bis es Zeit für ihn ist, weiter zu reisen. Marokko, sagt er, da möchte er hin.
Karin ist dem Ebro gefolgt. Auch sie wandert gerne, übernachtet lieber in Pensionen, und erholt sich heute ein wenig südlicher flussabwärts von den Anstrengungen ihrer Bergtour. Wir fahren weiter. Alleine schon mal, damit ich mit Hilde irgendwo in Ruhe spazieren gehen kann. Aber auch, weil ich da was auf der Karte gesehen habe, das mich reizt. Vogelfrei ist nicht grundsätzlich falsch oder gefährlich. Und vielleicht möchte ich ein neues Lebensbild zeichnen, eins voll Hoffnung und Lebenslust, voller Freude und der Freiheit des Fliegens, wenn auch nur im Kopf.